von Bodo-Klaus Eidmann

Das stille Netzwerk im Körper. Faszien und ihre überraschende Kraft

Faszientraining gilt als Schlüssel zu mehr Beweglichkeit, Schmerzfreiheit und innerer Balance. Das Gewebe entfaltet dort seine Stärke, wo man es am wenigsten vermutet: in der Tiefe des Körpers. Die Faszienexpertin Renate Lieb, die auch Pilates- und Yoga-Trainerin ist, führte erfahrene Aikidotrainer im Rahmen einer Trainer-/Übungsleiterfortbildung des Fachverbands Aikido (FAB) in der Sportschule Oberhaching des BLSV bei München in die Thematik der Faszien ein.

Faszien bilden ein weitverzweigtes Netz aus Bindegewebe, das sich durch den gesamten Körper zieht. Es stützt, umhüllt, trennt und verbindet – Muskeln, Organe, Gelenke. Dieses feinmaschige System galt lange als bloßes Füllmaterial. Heute ist es als hochdynamisches Sinnesorgan anerkannt, das maßgeblich an Bewegungskoordination, Kraftübertragung und Schmerzwahrnehmung beteiligt ist.

Faszienexpertin Renate Lieb, die auch Pilates- und Yoga-Trainerin ist. Foto: privat

Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Ein zentraler, oft übersehener Aspekt dabei: Das Fasziengewebe unterscheidet sich bei Männern und Frauen deutlich – sowohl in Struktur als auch in Beschaffenheit. Bei Männern ist es oft dichter, fester und faseriger, bei Frauen dagegen elastischer, weicher und stärker netzartig ausgeprägt. Diese Unterschiede bringen jeweils Vor- und Nachteile mit sich: Männer profitieren häufig von höherer Stabilität, Frauen dagegen von größerer Beweglichkeit. „Das eine ist nicht besser als das andere – es ist einfach unterschiedlich“, erklärt Faszienexpertin Renate Lieb. Entscheidend sei, diese Unterschiede nicht zu bewerten, sondern zu akzeptieren und individuell damit zu arbeiten.

Körper antwortet auf Aufmerksamkeit

Faszientraining zielt darauf ab, diese Strukturen geschmeidig und funktionsfähig zu halten. Durch gezielten Druck – etwa mit Rollen oder Bällen – werden Spannungen gelöst, das Gewebe rehydriert und die Beweglichkeit verbessert. Besonders effektiv wirkt die Bearbeitung sogenannter „Faszienbahnhöfe“, also neuralgischer Punkte entlang der großen faszialen Verbindungslinien, wie sie etwa Autor Tom Myers, Körpertherapeut, Anatom und Faszienforscher aus den USA,  in seinem Modell der „Anatomy Trains“ beschrieben hat. Wird entlang dieser Linien gearbeitet, entstehen häufig überraschend schnelle Effekte: spürbare Entlastung, gesteigerte Bewegungsfreiheit, manchmal auch das spontane Nachlassen von Schmerzen. Die Erfahrung: Der Körper beginnt, sich selbst zu reorganisieren, wenn er gezielte Impulse erhält – vorausgesetzt, er wird bewusst wahrgenommen.

Spürbare Wirkung – wissenschaftlich belegt

Die Wirkung dieser Trainingsform lässt sich nicht nur fühlen, sondern auch messen. Studien belegen:

  • Verbesserte Beweglichkeit bereits nach wenigen Wochen regelmäßigen Trainings, insbesondere entlang der dorsalen Linie (Rücken, Beine, Nacken).
    (Schleip et al., 2012, Journal of Bodywork and Movement Therapies)

  • Reduktion chronischer Schmerzen, etwa im unteren Rücken oder in den Knien, durch myofasziale Selbstbehandlung.
    (Beardsley & Škarabot, 2015, Strength and Conditioning Journal)

  • Schnellere Regeneration durch Förderung der Gewebedurchblutung und Unterstützung des Lymphflusses.
    (Cheatham et al., 2015, IJSPT)

  • Stressreduktion über die Beruhigung des vegetativen Nervensystems – ein Effekt, der insbesondere bei Frauen deutlich spürbar sein kann.
    (Myers, Anatomy Trains)

Veränderung beginnt in der Tiefe

Nach intensiver Arbeit entlang des hinteren Faszienzugs – von den Fußsohlen über die Beinrückseiten, das Gesäß, die Wirbelsäule bis zum Nacken – stellt sich häufig ein Zustand tiefer Entspannung ein. In einer praktischen Einheit berichteten Teilnehmende von einer überraschenden Müdigkeit, einem Gefühl von innerer Ruhe und teils sogar dem Verschwinden hartnäckiger Schmerzen. Ein Fall: Ein zuvor gereiztes Kniegelenk des Autors zeigte sich nach der Behandlung beschwerdefrei. Ein Effekt, der nicht ungewöhnlich ist – und sich durch die Entlastung angrenzender faszialer Strukturen erklären lässt.

Regelmäßigkeit ist der Schlüssel

Die langfristige Wirkung des Faszientrainings entfaltet sich vor allem durch Wiederholung. Zwei bis drei Einheiten pro Woche gelten als ausreichend, um das Gewebe geschmeidig zu halten. Entscheidend ist nicht die Intensität, sondern die achtsame Wiederholung und das individuelle Spüren. „Heilung ist ein Prozess, den man dem Körper nicht abnehmen kann – aber man kann ihn dabei begleiten“, sagt Renate Lieb. Entscheidend sei, nicht gegen den Körper zu arbeiten, sondern mit ihm.

Ein Gewebe mit Gedächtnis

Faszien speichern Bewegungsmuster, emotionale Spannungen – und können diese auch wieder loslassen. Der Körper vergisst nicht, aber er kann umlernen. Faszientraining bietet einen Weg, diesen Prozess bewusst zu gestalten. „Faszien verbinden nicht nur unsere anatomischen Strukturen – sie speichern unsere Erfahrungen.“ So bringt es Tom Myers auf den Punkt: „Wer an der Struktur arbeitet, arbeitet an der Geschichte des Körpers.“ Faszientraining ist mehr als eine Modeerscheinung. Es ist ein fundierter, wirksamer Ansatz, um den Körper beweglich, belastbar und schmerzfrei zu halten – mit dem Potenzial, alte Muster zu lösen und neue Bewegungsspielräume zu eröffnen

Bodo, Lars und Franz vom Tendoryu Aikido bei der Übungsleiterverlängerung. Foto: Bodo-Klaus Eidmann

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